Ich habe Briefkästen immer gehasst. Früher musste ich schon immer weit laufen, auch wenn es nur ein einziger kleiner Brief gewesen war, um ihn in einen der rar gesähten Kästen der Stadt einzuwerfen. Dadurch hatten sich für mich eine Menge Probleme ergeben. Ich schob das Fertigmachen eines Briefes immer mehrere Tage hinaus, ging nur ungern für das Verschicken vor dir Tür und wartete meist darauf, bis irgendein Bekannter von mir vorbeikam, dem ich den Brief in die Hand drücken konnte, damit er ihn auf dem Nachhauseweg zu sich in einen der Kästen einwerfen konnte. Ständig bekam ich Mahnungen oder musste irgendwelche Verträge weiter bezahlen, da ich die Kündigungsfrist auf Grund meines Problems nicht eingehalten hatte. Ähnlich verhielt es sich mit Großeinkäufen. Ich hatte nur selten mal genug zu essen im Haus. Regnete es draußen zusätzlich noch, fühlte ich mich noch mieser und fauler. Aber warum sage ich das überhaupt. Ich hatte mich in meinem Leben immer vor Dingen gedrückt, hatte Angst vor Neuerungen, verließ das Haus ungerne, egal ob ich zur Schule oder zum Zahnarzt musste, suchte mir immer passende Ausreden, log, schrie, warf Stühle um, zerstörte Einrichtung, rannte Treppen hoch und runter, schloss mich im Bad ein, rang nach Luft, schlug um mich, schlug meine Mutter, schlug meinen Vater, riss Kabel aus der Wand, schrie, schrie und schrie. Oft höre ich, dass Kinder halt so sind. Nie hatten mich meine Eltern geschlagen, nie hatten sie mir etwas Böses getan. Innerlich schreie ich immer noch, ich denke oft zurück an solche Momente, und immer krampft mir der Magen zusammen, immer könnte ich schreien, heulen, mich schlagen. Stattdessen fresse und saufe ich in mich rein.
© soleauabgelegt in Hirngespinste
Ich saß mit einer Kollegin am Küchentisch. Sie regte sich mal wieder über die Einrichtung auf.
„Dieses verfickte Scheißteil in der Ecke geht mir auf den Sack. Diese Ecke dahinten ist überhaupt nicht genutzt. Genau wie dieses verfickte Gewürzregal.“
Ich zündete mir eine an. So schlimm war’s hier nicht. Brauchte mich wenigstens nicht umgewöhnen, wenn ich aus meiner Bude hierher kam.
„Geht dir das hier nicht auf den Piss? Es ist hier alles so versifft!“
„Ne“, antwortete ich.
Sie schaute mich angeekelt an. Aber was soll’s. Ich fuhr irgendwann nach Hause. Ich hatte dort im Kühlschrank noch acht Flaschen Bier liegen. Samstagnachmittag hatte ich sie mir gekauft. Im Getränkemarkt an der Ecke, da wo man gegenüber am Zeitungsladen immer noch diese Telefonkarten bekam, obwohl niemand mehr die Dinger benutze.
Nun denn, ich hatte auf jeden Fall noch acht Flaschen Bier. Ich trank eine. Kurz darauf klingelte es an der Tür. Es war mein Vermieter.
„Mister, zum Teufel, putzen Sie endlich ihre Fenster!“, schrie er mich fast an. „Und Sie sind mit Ihrer Miete im Verzug. Beeilen Sie sich, oder es knallt!“
„Geht klar, mache ich“, sagte ich.
„Was machen Sie?“, brüllte er zurück.
„Ich knalle Ihre Schwester, und danach putze ich die Fenster.“
„Was?“, brüllte er mich an.
„Ach komm Opa, du bekommst deine Kohle schon und früher oder später wird’s regnen, dann werden die Fenster auch wieder sauber“, antwortete ich.
„Wehe…“. Er wedelte mit dem Finger, drehte sich um und ging mit einem roten Kopf die Treppe runter. Ich schloss die Tür. Nun ja, es war wirklich ziemlich warm gewesen in den letzten Wochen. Geregnet hatte es schon lange nicht mehr. Aber ich hatte ein gutes Gefühl. Ich setzte mich an meinen Küchentisch, öffnete eine weitere Flasche Bier und zündete mir eine an.
Danach klingelte das Telefon. Musste einer meiner Nachbarn gewesen sein.
„Sie mieses Arsch haben mir eine Beule in meinen Wagen gefahren!“, fauchte die Stimme.
„Nein, habe ich nicht“, log ich den Kerl an.
„Doch haben Sie. Ich habe noch gesehen, wie Sie sich runter gebückt haben, um sich das Ding anzusehen!“, kam zurück gelogen, denn das hatte ich wirklich nicht. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern.
„Mister, wieso verarschen Sie nicht jemanden anderen. Ich habe zu tun“, log ich erneut.
„Ihnen wird das Lachen noch vergehen. Sitzen da oben die ganze Zeit rum in ihrer Drecksbude, sind jeden Abend betrunken und kümmern sich einen Scheiß um Ihre Mitmenschen!“
Meine Magenkrämpfe hatte er nicht erwähnt. An sonst war das eine sehr detailierte Beschreibung meines Lebens gewesen. Ich wurde ungemütlich.
„Hör zu du Arsch“, sagte ich, „wenn du mich noch einmal wegen deiner scheiß Karre ansprichst, rasier‘ ich deine Eier und schlag sie mir in die Pfanne.“
„Das ist doch…“, sagte er.
„…lecker“, antwortete ich und legte auf.
Schachmatt. Ich legte meine Füße auf den Küchentisch, zündete mir eine Zigarette an und kratzte mich im Schritt.
© soleauabgelegt in Exkurs
Ich lag auf der Couch. Ursprünglich war ich verabredet gewesen. Mein Telefon hatte aber nicht geklingelt und meine Hoffnungen, dass es noch klingeln würde, waren auch schon davon gezogen. Die letzten Tage waren schlimm gewesen. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Wenn ich morgens aufwachte, fühlte ich mich beschissen, weil mir nichts anderes übrig blieb, als wach zu sein. Heute war ich schon gegen 7 Uhr aufgewacht. Mir war übel gewesen und ich hatte mich sogar etwas übergeben müssen. Natürlich war nur bitterer Mageninhalt heraus gekommen und jetzt schmerzte mir der Hals. Ich ging kurz runter zum Supermarkt, schaltete vorher den Anrufbeantworter ein. Ich kaufte sechs Flaschen Bier, Spaghetti, Salz und Kaugummi. Kurz drauf kam ich wieder heim. „Wenn da ‘ne Nachricht da ist, fress‘ ich meine Socken“, sagte ich so vor mich hin. Ich schaute nach. Keine Nachricht. Hatte also doch was Gutes, wenn man vergessen wird. Also ich lag weiter auf meiner Couch rum. Draußen hämmerte ein Presslufthammer, von unten kam Musik, über mir an der Decke zwei kaputte Glühbirnen. Auf dem Tisch Geschirr und alte Zeitungen. Ich hatte keinen Pepp mehr.
Dann klingelte auf einmal das Telefon. Ich war doch nicht vergessen worden und musste mich nun entweder beeilen oder tot stellen. Zweites wäre sicherlich einfacher gewesen, hatte mich den Tag über eh schon nicht ganz fit gefühlt. Ich zog mir meine Hose an und ging zügig ins Bad, wollte mich zurechtmachen. Aber sowas hatte ich schon lange nicht mehr getan, und ich war in solchen Dingen immer miserabel gewesen. Ich klappte den Spiegel auf. Kämmen, Zähne putzen. Hektik. Zu guter letzt fiel mir mein Rasierwasser ins Becken. Ich ließ es erstmal liegen; hatte auch noch nichts gegessen. Ich musste fürchterlich aus dem Mund gestunken haben. Ich trank schnell eines der Biere, welche ich gekauft hatte und schob mir danach einen Kaugummi rein, schlug also zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich fühlte mich gar nicht mehr so übel.
Das Wetter war ganz passabel gewesen. Also verzichtete ich auf ein Taxi und ging zu Fuß in die Stadt. An einem Schaufenster machte ich kurz Halt und warf einen Blick von oben nach unten auf mein Spiegelbild. Gut, ich hatte mich nicht rasieren können. Ansonsten war ich recht zufrieden. Ich grinste mich an und ging weiter.
Nach wenigen Minuten war ich angekommen. Wir hatten uns in einer alten Eckkneipe verabredet, wo wir und besonders ich schon zahlreiche gute Abende erlebt hatten. Sie war noch nicht da. Lou, ein guter Freund von mir saß rechts am Tresen und winkte mich herüber. Ich lehnte mich mit meinem rechten Ellbogen locker gegen die Theke. Hank, der Kerl hinter der Theke kannte mich ganz genau. Er wusste was ich bekam und stellte mir ein Glas hin. Lou erzählte mir von einer Reise, die er mit seiner Frau antreten würde. Ich meine, die Harmonie zwischen den beiden war schon längst verflogen, aber Lou machte so einen glücklichen Eindruck, als hätte er Melinda erst vor wenigen Tagen kennen gelernt. Er sah so gut aus und es tat gut, ihn so zu sehen. Er hatte schon schlechtere Zeiten erlebt. Vor einigen Jahren hatte sich sein Sohn aus einer früheren Beziehung mit seinem Wagen an einen Baum gefahren. Das hatte ihn damals völlig aus der Bahn geworfen. Er lächelte mich an. Ich klopfte ihm auf die Schulter und stieß mit ihm an.
Hank stellte mir ein neues Glas hin. Ich nahm einen Schluck. Der gute Hank. In all den Jahren war ich immer großzügig gewesen und ab und an revanchierte er sich mit einem Drink bei mir. Manchmal, wenn er den Laden abends schon dicht gemacht hatte, saß ich noch bei ihm am Tresen und wir unterhielten uns über alte Zeiten, tranken etwas und hörten Platten aus seiner Sammlung.
Jetzt hörte ich aber erstmal das Quietschen der Tür. Ich drehte mich um, schaute, und sah, dass sie reinkam. Arm in Arm mit irgend so einem Typen, den ich nur vom Sehen her kannte. Mit einem Ruck rutschte mir alles in die Hose. Mein Hals war wie zugeschnürt. Mir war übel. Ich drehte mich um, holte tief Luft und goss mein Glas in einem Schluck runter. Ich weiß nicht, ob man mir irgendwas ansehen konnte. Jedenfalls guckte mich Hank erschrocken an. Ich musste beschissen ausgesehen haben. Ihre Schritte kamen Richtung Bar. Ohne nur eine Sekunde nachzudenken, klopfte ich Lou nochmal kurz auf die Schulter und wollte abhauen. An ihr schon vorbei, griff ihr Typ auf einmal nach mir. „Hey, was soll der Scheiß?“, fragte er. Ich riss mich los und wuchtete ihm mit meiner Rechten in einem Dreh eins in die Magengegend. Er krampfte zusammen, sie schrie auf. Ich lief hinaus. Auf der Straße rannte ich fast gegen einen alten Mann, konnte ihm aber so gerade noch ausweichen. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich lief nach Hause und trank die restlichen Flaschen Bier. Es klingelte mehrmals an der Tür. Ich blieb auf meiner Couch unruhig sitzen und öffnete nicht. Irgendwann ging ich ins Bad. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber ich fing an zu heulen. Bisher war ich immer wieder davon runter gekommen. Doch dieses Mal hatte ich Schiss, dass es mich fertig machen würde.
© soleauabgelegt in Alltag
Pünktlich gegen 18 Uhr waren wir verabredet. Doch kam wenige Minuten vorher die Nachricht, dass sie erst später eintreffen würde. Ich befand mich schon auf dem Weg und beschloss die Zeit zu nutzen, um noch eine warme Mahlzeit in einem Imbiss einzunehmen. Nicht nur, dass ich eigentlich garkeinen Hunger hatte, erwartete ich mir von dem Treffen nicht viel. Nachdem ich mir eine Portion Pommes-Frittes mit mehr Mühe als Lust den Rachen runter geschoben hatte, machte ich mich auf den Weg ins Café. Es war papp nass auf den Straßen; die Fransen meiner Hose schliffen durch das dreckige Wasser. Ich hatte mir zu viel Curry auf mein Essen getan, so dass ich den Geschmack erstmal mit einem Bier herunter spülte. Während ich weiter wartete, traf ich noch Dan, einen Kameraden aus guten, alten Tagen. Er bestellte uns zwei Drinks und erzählte mir, dass er einen heißen Tipp für das nächste Rennen hätte. Ich schlug ab; ich hatte schon lang nicht mehr gewettet. Der Drink bekam mir gut. Als ich weitere zehn Minuten gewartet hatte - Dan war schon wieder gegangen, beschloss ich, mir ein weiteres Bier zu besorgen. Doch als ich zur Theke ging, kam Luzy die Treppe ins Café herunter. Ich bestellte zwei Drinks. Sie umarmte mich herzlich, doch spürte ich neben ihrem nassen Mantel und ihrer warmen Wange nur meinen kratzenden Herzschlag. Ich wusste, dass wir später am Abend auseinander gehen würden und sie meinen Blumenstrauß, den ich ihr mitgebracht hatte, auf den Küchentisch stellen würde; ihn aber schon bald nicht mehr beachten und ihn an einem der Tage, wo sie keine Zeit hatte, verwelken lassen würde. Ich wollte schon wieder weg. Ich hätte mit Dan weggehen sollen. Sie goss ihren Drink in einem Tempo herunter, welches ich von Frauen Jenseits der 25 Jahre nicht kannte. Ich hielt mit und bestellte noch zwei Drinks. Sie erzählte mir, dass sie schon lange nicht mehr in der Stadt war. Allgemein redete sie nur belangloses Zeug. Mich interessierte es nicht. Ich lenkte mich ab. Das Leben war an diesem Abend nicht für mich zu Recht geschneidert und ich fand auch keine Möglichkeit, irgendwie hineinzuschlüpfen. Ich ließ nur noch laufen. Mir bekam es nicht mehr gut. Ich beschloss, sie anzulügen, um nach Hause zu kommen. Ich sagte ihr, ich hätte noch einen Freund zu pflegen, der vor wenigen Wochen beim Lauf durch den Wald von einem wilden Hund angefallen und gebissen worden wäre. Seitdem sei er auf Pillen, dürfte das Bett nicht verlassen und könnte sich keinen Krankendienst leisten. Ihr Blick sagte mir, dass sie es nicht glaubte, doch war ich sie wieder einmal los. Ich ging wieder hinaus. Mir riss es in den Magen. Gegenüber in einer Kneipe sah ich Dan. Er versoff sein letztes Geld. Er sah mich und winkte mich herüber. Sein fauler Atem stach mir ins Gesicht. Er redete völlig wirr uns haltlos und bekam keinen Satz heraus, ohne zu erwähnen, dass er einen Tipp habe, der ihm beim nächsten Mal eine Menge Geld bringen würde. Bald lag er mit beiden Armen aufgelehnt auf der Theke. Ich konnte noch schnell raus, um den letzten Bus zu meiner Wohnung zu bekommen. Ich rief sofort Pat an, doch war er scheinbar schon nicht mehr zu Hause. Schon seit einigen Tagen funktionierte meine Heizung nicht mehr. Nachts fror ich; konnte nur schlecht schlafen. Aber müde war ich noch nicht. Ich goss mir ein halbes Glas Scotch ein. Hätte ich jetzt eine Waffe, würde ich mir das Hirn wegpusten. Ich spielte oft mit diesen Gedanken. Sie taten mir gut, auch wenn ich wusste, dass ich es nie soweit kommen lassen würde. Ich trank ein weiteres Glas und schaltete den Fernseher ein. Auf irgendeinem Kanal ließ sich gerade ein Japaner an den Brustwarzen an eine Wäscheleine hängen. An anderer Stelle rieb sich eine Frau die Brüste und versprach es mir zu besorgen. Ich schaltete ab. Zum Glück hatte ich noch ein paar Flaschen Bier. Ich legte eine alte Platte von Art Blakey auf und versuchte es nochmal bei Pat. Aber wieder nahm niemand ab. Ich ging zum Kühlschrank und löffelte den Rest Bohnen aus, die ich am Morgen in einer Pfanne gebraten hatte. Währenddessen hörte ich draußen auf der Straße ein paar Jugendliche, die einen sitzen hatten. Sie grölten und traten gegen ein paar Mülltonnen von einem meiner Nachbarn. Ich hatte keinen Kontakt zu meinen Nachbarn. Nachdem ich an einem Samstagmorgen Unterhose tragend den Müll zur Tonne gebracht hatte, schauten sie mich verachtend an. Ich konnte es verstehen; ich war ein Wrack. Ich wusste, warum Luzy mich immer wieder hatte abblitzen lassen. Ich versuchte es gar nicht mehr. Mir war es nicht egal, doch versuchte ich es mir einzureden. Es bekam mir nicht gut, wenn ich mich selber anlog. Deswegen trank ich auch. Ich log mich an. Ich schrie auf und warf mit einer gewaltigen Kraft die leere Dose Bohnen an die Wand. Die Hülle der Art Blakey bekam einen mächtigen Spritzer ab. Seitdem habe ich sie mir nicht mehr angesehen.
© soleauabgelegt in Alltag